Schreien und das Warten darauf, dass es aufhört

Das Kind schreit. Alle haben es erwartet. Kinder schreien nun mal. Alle sagen, das wird schon aufhören. Alle, ob kinderlos oder erfahrene Großeltern, haben Tipps zur Hand – von den Klassikern wie Tragen und Pucken bis zu „Geheimtipps“ wie Föhn oder Babymassagen. Alle scheinen anzunehmen, dass es so schlimm nicht sein kann, weil schließlich gehört es dazu. Niemand fragt, wie lange man daneben sitzt, das Kind hochnimmt, das Kind wieder hinlegt, selbst weint und schwitzt und seinen Partner anschreit und sich fragt, was man falsch gemacht hat.

Schreien gehört dazu, Schreien ist normal, zumindest bei Babys. Das sagen Verwandte, Freunde, das sagt das Internet. Nur der Kinderarzt Herbert Renz-Polster formuliert es in der Kapitelüberschrift von Kinder verstehen als Frage: „Gehört Schreien dazu?“

Das Kind schreit. Eine halbe Stunde, eine Stunde. Der Kopf wird rot, die Hände zu Fäusten geballt, nach ein paar Wochen kommen auch Tränen dazu. Du hast auch geschrien, höre ich. Du hast viel geschrien, in den Aufzeichnungen meiner Mutter heißt das „Koller“, gern in Großbuchstaben, KOLLER. „In den ersten Lebenswochen schreien Kinder auch ohne ersichtlichen Grund“ (Largo 2019, S. 246) schreibt der Kinderarzt Remo Largo in Babyjahre. In seiner Tabelle zu Gründen für das Schreien gibt es neben „körperlichen Gründen“ und „emotionalen Gründen“ auch „unspezifisches Schreien“, hier steht nur kurz: „Keine Gründe eruierbar“ (Largo 2019, S. 245).

Der Partner trägt das Kind im Tragetuch, ich trage das Kind im Tragetuch. Wenn es getragen wird, hört es auf zu schreien. Meistens.

Wir kennen die Statistiken, wir haben nachgelesen, was normal ist: „In den westlichen Gesellschaften nimmt das unspezifische Schreien in den ersten 3 Lebensmonaten einen charakteristischen Verlauf. Nach der Geburt schreien alle Kinder von Woche zu Woche mehr. Mit etwa 6 Wochen weinen sie am meisten. […] In den folgenden Wochen nimmt das unspezifische Schreien wieder ab. Im Alter von 3 Monaten schreien die meisten Kinder nicht mehr oder nur noch wenig.“ (Largo 2019, S. 247) Wir zitieren die Statistiken ab der dritten Woche, wenn wir das aufschreiende Kind ins Tragetuch packen, wenn wir Eltern oder Freunden erklären, warum wir nicht mehr können. Sie nicken und lächeln verständnisvoll, so sind Kinder eben. Wir verschweigen die Meta-Studie zum Schreien von Dieter Wolke, die nicht zu dem Ergebnis kommt, dass es einen Schrei-Höhepunkt gibt, sondern Durchschnittszeiten für das tägliche Schreien ermittelt, die von etwa zwei Stunden pro Tag in den ersten sechs Lebenswochen auf etwa 68 Minuten in Woche 10 bis 12 fallen („No statistical evidence for a universal crying peak at 6 weeks of age across studies was found. Rather, the mean fuss/cry duration across studies was stable at 117-133 minutes (SDs: 66-70) in the first 6 weeks and dropped to a mean of 68 minutes (SD: 46.2) by 10-12 weeks of age.“ Wolke, 2017).

Aber zwei Stunden am Tag im Schnitt, der Tag hat doch 24 Stunden, so lang könne das nicht sein, sagt jemand, ich habe vergessen, wer, ich bin zu müde. Er oder sie hat es nicht böse gemeint, er oder sie hat wahrscheinlich noch nie mehrere Stunden neben einem weinenden Säugling verbracht, der es, so Renz-Polster, innerhalb von Sekunden auf eine nicht unbedingt lebensraumadäquate Lautstärke bringt: „Wenn sie schreien, dann gleich richtig. Messungen zeigen, dass Babys es schnell auf eine Schallstärke von 82 Dezibel bringen – knapp unter dem Schalldruck eines Presslufthammers, also ein klarer Hinweis darauf, dass das Schreien ursprünglich nicht für Zweizimmer-Wohnungen ‚entwickelt‘ wurde…“ (Renz-Polster, S. 150f.) Gegen die Lautstärke kann man schalldichte Kopfhörer tragen, wie mein Partner es tut, gegen die Tränen in den Augen des Kindes und das Nach-Luft-Schnappen, das nach mehreren Minuten Geschrei sichtlich einsetzt, nicht.

Das Kind schreit manchmal morgens beim Aufwachen, manchmal fängt es erst am Nachmittag damit an. Noch während es einen anlächelt oder wenn der Blick wandert oder. Es ist kein Muster erkennbar. Hat das Kind etwa Verdauungsprobleme, so die häufigste Vermutung? Remo Largo glaubt nicht an die sogenannten „Dreimonatskoliken“ („Der aufgetriebene Bauch scheint aber eher die Folge als die Ursache des Schreiens zu sein: Der Säugling schluckt beim Schreien viel Luft. Eine organische Ursache im Bereich des Darms, zum Beispiel ein Verdauungsenzym, das noch nicht ausgereift ist, konnte trotz intensiver Suche bisher noch nicht gefunden werden.“ Largo 2019, S. 249), Renz-Polster meint, es gebe doch Studien für erhöhte Darmtätigkeit bei Schreibabys, kommt aber zum Schluss: „Wirkliche Beweise gibt es aber weder für noch gegen den Darm.“ (Renz Polster 2013, S. 162). Ich weise daher höflich darauf hin, dass wiederholte Fragen danach, ob er etwas in meiner Nahrung nicht verträgt oder ob er etwa nicht genug gestillt wird, nicht zielführend sind, weil es keine Nachweise dafür gibt. Ich bin zu müde, um zu fragen, warum so viele um mich nun Experten für Muttermilch und Babyernährung geworden sind.

Wir lesen die entsprechenden Kapitel und Passagen immer wieder, weil sie von Wissenschaftlern verfasst wurden, weil sie ihre Aussagen schlüssig herleiten und belegen. Weil es im Internet allzu viele Anleitungen und Tipps gibt, was man angeblich gegen das Schreien tun könnte, Elternmagazine, Onlineshops und Foren sind voll davon, unbelegt oder von eigenen Erfahrungen hergeleitet, die immergleichen Sätze und Behauptungen von einander abgeschrieben ohne Nachweis.

Das Kind sieht gequält und müde aus, wenn es viel geschrien hat. Wie es dem Kind geht, fragen viele, wie es uns geht, nicht so viele. Ich habe geschrien als Baby, mein Partner hat geschrien als Baby, wird uns erzählt. So ist das eben. Und wie ist das mit den Eltern? Kurze Hinweise gibt es, auch bei Largo und Renz-Polster: „Sie glauben bei der Pflege ihres Kindes versagt zu haben. Es ist verständlich, wenn sie in ihrer Hilflosigkeit auch aggressive Gefühle entwickeln.“ (Largo 2019, S. 249), „Und immer stehen Eltern vor der Herausforderung, ihre Wut auf das schreiende Bündel zu zähmen, die auch beim besten Willen hochkochen kann.“ (Renz-Polster, S. 169) Hilflosigkeit und Wut also, wohin damit? So geht es allen, da kann man nichts machen, zwei wohlmeinende Verwandte gehen so weit, uns zu erklären, dass wir das eben nicht mit Logik lösen könnten, was wir denn erwartet hätten?

Das Kind hört auf zu schreien, wir machen uns Hoffnungen, dass es vorbei ist, das Kind fängt nach ein paar Tagen wieder an. Wir schauen in den Kalender, wir lesen wieder nach, wir warten noch auf die magische Dreimonatsgrenze: Dahinter beginnt das „persistierende Schreien“, wie es heißt, wenn Kinder weiter „exzessiv weinen“ (Largo 2019, S. 248), dann bewegen wir uns in Richtung des umgangssprachlichen „Schreibabys“. Dann, und erst dann, so das Ergebnis von Wolkes Studie, müsse man über Behandlung nachdenken („However, if excessive fuss/cry persists beyond the first 3 months, there is increasing evidence that this may indicate regulatory problems with adverse consequences for future development and may require treatment.“ Wolke, 2017).

Wir warten weiter, wir sind in Alarmbereitschaft. Wenn das Kind beim Spielen mit einer Klingel immer müder wirkt, wenn es ein leises Quengeln von sich gibt, es im Park in der Wiese aufschluchzt, entschuldigen wir uns, packen es ins Tragetuch, erklären, dass es schlafen muss, dass es sonst zu weinen anfängt. Die Erinnerungen an die durchschrienen Minuten und Stunden der letzten Wochen, die sofort hochkommen, wenn das Kind lauter wird, sind für die anderen nicht nachvollziehbar. Die Stunden, die wir bis zum Schlafengehen noch durchstehen müssen, habe ich inzwischen angefangen zu zählen, mein Partner zählt nicht immer mit, er hat es besser geschafft, sich damit abzufinden, dass das Schreien wieder anfängt, nimmt es gelassener.

Mittlerweile wissen wir, dass auf unser Aufspringen alle sagen, dass es ja noch nicht so schlimm sei, das Quengeln, das Aufschluchzen, warum wir das Kind denn schon hochheben, schon einpacken? Manche fragen wieder danach, ob es genug zu trinken bekommt, ob wir es schon mit Pucken versucht haben? Wir sind nach Wochen zu müde, um darauf noch zu antworten. Die Ratschläge und Anekdoten, die wir erzählt bekommen haben, können wir schon nicht mehr aufzählen. Die Nadeln, auf denen wir sitzen, scheinen für alle unsichtbar zu sein, selbst für die, die dasselbe oder etwas Ähnliches schon erlebt haben. Warum sich alle auf Nadeln setzen und es für normal halten, warum alle zu denken scheinen, es kann nicht so schlimm sein, wenn sie es schon hinter sich haben oder noch nicht erlebt, bleibt uns rätselhaft. Und das Kind sieht uns aus großen blauen Augen an.

 

Literatur:

Largo, Remo H. (2019): Babyjahre. Entwicklung und Erziehung in den ersten vier Jahren. Vollständig überarbeitete Neuausgabe. München: Piper.

Renz-Polster, Herbert (2013): Kinder verstehen. Born to be wild: Wie die Evolution unsere Kinder prägt. 6., überarbeitete Auflage. München: Kösel.

Wolke, D., Bilgin, A., & Samara, M. (2017): Systematic Review and Meta-Analysis: Fussing and Crying Durations and Prevalence of Colic in Infants. The Journal of Pediatrics, 185, 55-61.e54. doi: http://dx.doi.org/10.1016/j.jpeds.2017.02.020 (online verfügbar unter: https://www.jpeds.com/article/S0022-3476(17)30218-4/fulltext , zuletzt eingesehen am 1.5.2020)

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